
Gewünschte Digitalkompetenz: Make or Buy?
„Digitalisierung“ interpretieren viele Beratungen als eine Möglichkeit, effizienter zu arbeiten. Unter diesem Schlagwort kann beispielsweise die Vielzahl von „Remote“-Themen einsortiert werden oder auch die „NewWork“-Bewegung. Digitalisierung wird von Beratungen aber auch oft als Möglichkeit betrachtet, ihren Kunden bei diesem Hype-Thema als Unterstützer und Begleiter zur Seite zu stehen. Neben den möglichen internen Effizienzgewinnen gibt es also auch eine populäre Digitalisierungs-Welle, die als externer Projekt- und Umsatztreiber dient.
Der hierfür notwendige Kompetenzaufbau kann prinzipiell organisch oder anorganisch erfolgen. Organisch meint hierbei, dass die Entwicklung aus eigener Kraft verfolgt wird. Das scheint allerdings schwierig zu sein: Viele Beratungen sind deutlich digital-averser als ihre Kunden! Daher ist die anorganische Variante, also das Zukaufen von einschlägiger Expertise, derzeit „in Mode“ und attraktiv, wie beispielsweise die Keynote des BDU-Präsidenten Ralf Strehlau auf dem gerade absolvierten Jahrestreffen des Verbandes und auch einschlägige Presseberichterstattungen vermitteln. Der Kauf von Digital-Beratungen oder -Agenturen scheint also ein Steigbügel zu sein, um kurzfristig in diesen Markt einsteigen zu können.
Man darf aber durchaus die Fragen stellen: Was ist dran an der „Kauf-Mode“? Wie läuft ein solcher Kauf ab? Und: Ist dieses Vorgehen nachhaltig?
Ungeprüfte Behauptung: M&A-Boom im Beratungsmarkt
In Fachdiskussionen entwickelt sich manchmal ein Bild, welches suggeriert: Alle halbwegs großen Beratungen kaufen Spezialisten, um selber zu einer Beratung mit Digitalkompetenz zu werden! Die stetige Wiederholung dieser (ungeprüften) Aussage führt dann zu einer gewissen Haltung und Erwartung bei Eigentümern, Mitarbeitern sowie Kunden von Beratungen, diese prominent platzierten Übernahmen nachzuahmen; möglichst schnell natürlich – sonst könnte man ja den Anschluss verpassen!
Ein Blick auf die nackten Zahlen hingegen offenbart eine ganz andere Situation: Übernahmen und Fusionen gab es in der Beratungsbranche schon immer und es gibt sie auch heute. Die Quantität hat allerdings nicht spürbar zugenommen. Auch die oft beschworene Konzentration im Markt hat in den letzten Jahren nicht stattgefunden – Der Marktanteil der zehn größten Beratungen ist sogar (soweit Daten vorhanden sind) zurückgegangen.
Typisches Vorgehensmodell: Anorganischer Digitalisierungs-Kompetenz-Erwerb
Der organische Aufbau von Digitalkompetenz erscheint oft mühsam und langwierig. Hierbei müssen einzelne Mitarbeiter der Beratung geschult werden (oder es werden erfahrene Einzelpersonen mit einschlägigen Kompetenzen von Dritten abgeworben), die dann ihr Wissen intern weitergeben und auch in Kundenprojekten punkten können. Der anorganische Erwerb dieser Kompetenzen durch die Übernahme von spezialisierten Beratungen oder Digitalagenturen erscheint manchmal als probate Abkürzung. Dieser Übernahmeprozess verläuft jedoch meist nicht ohne Komplikationen und Konflikte (typische Sollbruchstelle: Die Höhe des Kaufpreises) und auch die so genannte Phase der Post Merger Integration hat nicht nur eine „Hochzeit im Himmel“ schließlich scheitern lassen.

Die M&A-Literatur gibt viele Hinweise für einen erfolgreichen Kauf- bzw. Verkaufsprozess. Für diesen Beitrag wird stark fokussiert und vereinfacht. Das Vorgehen soll an Hand von fünf Schritten skizziert werden:
Nach einigen Vorüberlegungen und Untersuchungen erzielen Verkäufer und Käufer (i) Einigkeit über den Übernahmepreis und den Kaufgegenstand. Die Bezahlung erfolgt dann (ii) häufig unter Berücksichtigung eines „EBIT multiples“, d.h. der Käufer bezahlt einen Kaufpreis, der einem mehrfachen des jährlichen Gewinns (z.B. ausgedrückt durch die EBIT) des übernommenen Unternehmens entspricht. Dafür erhält die kaufende Beratung (iii) neben der Eigentümerschaft an Bürofläche, Schreibtischen und weiteren dinglichen Aspekten auch die Rechte am Intellectual Property der übernommenen Beratung. Zudem verpflichten sich meist (iv) auch die Schlüsselpersonen der gekauften Agentur darauf, für den Käufer zu arbeiten. Häufig sind Gründer, Geschäftsführer, Lead Designer, Senior Developer etc. zu diesem Kreis zu rechnen. Da eine solche Verpflichtung in einem gewissen Kontrast zum Artikel 12 des Grundgesetzes („Berufsfreiheit“) steht und die Verkäufer nicht gezwungen werden können, für das übernehmende Unternehmen zu arbeiten, wird häufig (v) eine sog. „Earn-out-Klausel“ vereinbart: Teile des Kaufpreises werden nach definierten Zeitperioden oder nach dem Erreichen von einschlägigen Finanzzielen gezahlt. Dies führt zu einer Bindung des übernommenen Spitzenpersonals (und signalisiert Dritten gegenüber Kontinuität). Fristen von zwei oder drei Jahren sind regelmäßig zu beobachten.
Leidige Zwickmühle: Should I stay or should I go?
Die übernehmende Beratung sieht sich an dieser Stelle mit einer Zwickmühle konfrontiert. Die landläufige Grundüberlegung für einen Digital-M&A lässt sich recht gut und plakativ mit „Wir kaufen ein junges, innovatives, digitales, disruptives Unternehmen – und das überträgt (magisch!) seine Einstellungen, Werte und Kompetenzen auf unsere etablierten Berater und auch die Kunden werden uns dafür mögen oder sogar anhimmeln!“ skizzieren.

Oft ist diese idealisierte Wunschvorstellung aber nicht zu realisieren! Variante 1: Entweder werden die neuen Digital-Berater eng an die Stamm-Berater gebunden. Dann kann ein Transfer von Digital-Kompetenz von Neu auf Alt stattfinden. Leider kommt es bei den neuen Mitarbeitern aber zu einem kulturellen Konflikt: Sie sehen sich gerade den strukturellen Rahmenbedingungen (Bürokratie!) ausgesetzt, denen sie durch die Gründung oder der Mitarbeit in einer kleinen Beratung entschwinden wollten. Der kulturelle Konflikt wird irgendwann zu groß und die „jungen Wilden“ verlassen das etablierte Beratungsschiff und machen (vermutlich nach Ablauf der o.g. Haltefrist) etwas ganz anders (oder das Alte unter neuer Flagge nochmal neu!)!
Variante 2: Oder den Digital-Beratern wird hinreichend viel Freiraum gelassen (Stichwort: Lange Leine! Der Vortrag des etventure-Beraters auf dem oben genannten BDU-Jahreskongress deutete in die Richtung, dass man zwar Teil von EY sei – aber irgendwie auch ganz anders und losgelöst agieren könne.) und sie fühlen sich weiterhin wohl in ihrer Digital- oder Innovations-Haut, aber der Funke springt nur sehr spärlich über zu den Kollegen aus den klassischen Beratungsbereichen.
Walking Assets: TANSTAAFL
Digital-Kompetenz erscheint aktuell notwendig, um im Kontakt mit Kundenorganisationen neue Aufträge zu generieren. Der Erwerb ebendieser Digital-Kompetenz auf einem natürlichen, also organischen Wege mag manchmal schwierig sein. Eine einfachere Lösung hierzu wird vielleicht in der Form der Übernahme eines kleineren, dafür aber spezialisierten Beratungshauses gesehen. Aber der Nachteil hierbei liegt in der Flexibilität und Mobilität der übernommenen Ressourcen: In der Regel sind es Menschen, die den Wert einer Beratung ausmachen. Und diese Menschen lassen sich zwar mit Hilfe von z.B. Earn-Out-Klauseln über eine gewisse Zeit an das neue Unternehmen binden, sind aber dennoch so genannte „Walking Assets“ – die ihrem Namen im Zweifel ziemlich schnell alle Ehre machen!
Der gerade noch angedachten „Abkürzung“ zum Erklimmen des Steigbügels bzw. zum Erwerb von Digitalisierungs-Kompetenzen kann also erwidert werden: TANSTAAFL (There ain’t no such thing as a free lunch) oder: Der Erwerb von Digital-Kompetenzen ist zwar durch einen Zukauf oder Firmenübernahme möglich – Ein Spaziergang wird dies aber nicht!
Zum Autor
Prof. Dr. Thomas Deelmann forscht und lehrt an der FHöV NRW in Köln. Ein Arbeitsschwerpunkt ist das Management von wissensintensiven Dienstleistungsorganisationen, z.B. Unternehmensberatungen und öffentliche Verwaltungen. Vorher war er u.a. als Vice President verantwortlich für die Strategieentwicklung eines der weltweit größten ICT-Dienstleisters.