“Wir bieten das größte Potenzial für Wachstum” – Dr. Kai Bender, Deutschlandchef von Oliver Wyman, im Interview

Welchen Einfluss haben KI-Tools auf die Beratungslandschaft? Werden Tech-Nerds zukünftig die Arbeitswelt dominieren? Wie gewinnt man die Talente im Markt für sich? CONSULTANT career lounge im Interview mit Dr. Kai Bender, Deutschlandchef von Oliver Wyman.


Daniel Nerlich: Herr Dr. Bender, worin sehen Sie in den kommenden 5 Jahren die größten Geschäftsrisiken für Oliver Wyman?

Dr. Kai Bender: Ich glaube ehrlich gestanden, dass das Thema „People“ das fundamentalste Risiko für den gesamten Beratungsmarkt und natürlich auch für uns darstellt. Auf marktbezogene Risiken können wir uns gut einstellen. Das Gewinnen von Talenten und das Schärfen unserer Value Proposition, so dass diese für die nächste Generation von Beraterinnen und Beratern immer noch attraktiv ist, kann man hingegen nicht durch kurzfristige Entscheidungen steuern. Darauf muss man sich grundsätzlich einstellen und da muss die Kultur stimmen. Wenn wir unsere Leute fragen, warum sie bei uns sind, dann hören wir vor allen Dingen, dass die Kultur bei Oliver Wyman so differenzierend ist.

Die Art und Weise, wie sich die Arbeit anfühlt, manifestiert sich meistens schon nach den Einstellungsgesprächen. Ich habe eine Routine entwickelt: Ich lasse mir jede Woche ein halbes Dutzend 15-minütige Calls in den Kalender einstellen, um mit Neueinsteigern zu sprechen. Ich frage dann: Wie war das Onboarding? Wie war Dein erster Eindruck? Haben wir das erfüllt, was Du Dir von uns erwartet hast? Warum bist Du eigentlich hier? Ich höre dann sehr häufig, dass die Menschen bei Oliver Wyman so interessant sind, weil sie so vielfältige Hintergründe besitzen und diverse Perspektiven einbringen. Das prägt in Summe unsere starke und positive Kultur. Kultur ist aber nichts Statisches. Wir arbeiten stets daran, uns weiterzuentwickeln – das ist für unseren zukünftigen Erfolg entscheidend.

Oliver Wyman Berlin © CSMM

Sie stehen in intensivem Wettbewerb um Talente. Wieso wird Oliver Wyman in der Zukunft die besten Chancen am Kandidatenmarkt haben?

Wir gewinnen typischerweise Personen für uns, die weniger gern in eingefahrenen Strukturen agieren. Wir bieten unseren Teammitgliedern vergleichsweise das größte Entwicklungs- und Wachstumspotenzial, was sich aus unserer Rolle eines Challengers im Markt ergibt. Und das zieht eine bestimmte Klientel an. Wenn jemand in den großen Beratungsapparat gehen möchte, der schon immer da war und der einen relativ vorgegebenen Pfad aufzeigt, dann entscheidet sich die Person vielleicht auch für einen anderen Arbeitgeber. Das ist dann auch total okay. Ich sehe da überhaupt keine Rivalität im engeren Sinne, sondern eher ein Matching zwischen dem, was der Markt anbietet, und dem, was der Markt nachfragt.

Ergibt sich Ihre Rolle als Challenger daraus, dass Oliver Wyman vor zehn, zwanzig Jahren vor allen Dingen im Bereich Financial Services positioniert war? Gab und gibt es in den sonstigen Industriesektoren einfach noch viel Markt zu erobern?

Ich bin jetzt seit 2009 dabei und die Firma Oliver Wyman hat sich in dieser Zeit massiv entwickelt: Zum einen haben wir unsere Practices viel stärker zusammengeführt, die Zusammenarbeit im Haus ist eine ganz andere. Wir haben zudem horizontale Fähigkeiten eingeführt, die es vor 20 Jahren so noch gar nicht gab, zum Beispiel die horizontalen Practices Restrukturierung, Digital, Operations und so weiter. Wir haben ganz neue Arten der Förderung und Weiterbildung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter etabliert, neue Zusammenarbeitsmodelle eingeführt…

Dabei sind wir aber auch bestimmten Elementen treu geblieben. Wir haben beispielsweise nach wie vor eine globale P&L, haben ein globales Staffing-Modell – Sie können schon in sehr jungen Jahren international eingesetzt werden. Dazu kommen dann neue Benefits und Strukturen wie unsere Elternzeitregelung, die für den deutschen Markt ziemlich großzügig ist. In der Kombination zieht das die Leute einfach an und überzeugt sie.

Waren das auch die Gründe, wegen derer Sie sich damals selbst für Oliver Wyman entschieden haben?

Nein, das hatte andere Ursachen. Ich bin Informatiker und habe mich in meiner Karriere immer mit IT-Strategien und großen Technologietransformationen befasst. Wenn Sie das als Strategieberater bearbeiten möchten, benötigen Sie eine gewisse Komplexität beim Kunden. Und diese Komplexität findet sich vor allem bei international aufgestellten Großkonzernen. Die strukturelle Aufstellung von Oliver Wyman ist sehr viel besser geeignet für die Beratung solcher internationaler Großkonzerne, als es mein vorheriger Arbeitgeber war. Das soll nun nicht bedeuten, dass es hier oder dort besser oder schlechter ist. Oliver Wyman hat einfach zu meiner Art des Geschäfts und zu dem, was ich an Voraussetzungen benötige, um erfolgreich zu sein, besser gepasst.

Oliver Wyman Berlin © CSMM

Sie sagen es: Sie sind Informatiker. Sie waren vor Ihrer Berufung zum Deutschlandchef als Head der IT-Consulting-Unit aktiv. Gehört den Tech-Geeks die Zukunft?

Ich glaube, dass das ein Missverständnis ist. Das ist eine Hypothese, die in den frühen 2010er Jahren entstanden ist. Mit dem Aufkommen der digitalen Transformation hieß es damals: Jetzt kommen die Nerds, schaut ins Silicon Valley und „data is everything“. Ich glaube das alles nicht. Ich glaube, man kann die Digitalisierung nicht nur als den Siegeszug der Technologie lesen, sondern man kann sie auch als den Siegeszug des Menschen lesen. Indem man nämlich durch die Digitalisierung die menschliche Zusammenarbeit vom Ballast des Überflüssigen befreit, so dass man mehr Zeit und mehr Gelegenheit für die menschliche Interaktion hat. Gleichzeitig kommen mit der digitalen Transformation auch große Veränderungsnotwendigkeiten und auch die kann man nur auf der menschlichen Ebene lösen.

Vor zehn Jahren waren die häufigsten Fragen: Digitalisierung – wie geht das? Was sind die Technologien? Was sind die Organisationsstrukturen? Was sind die Methoden? Dies hat sich fundamental geändert, heute stellt sich die Frage: Wie nehme ich die Leute mit? Und dies ist definitiv keine Nerd-Frage. Ich glaube deshalb nicht, dass den Tech-Geeks oder den Nerds allein die Zukunft gehören wird.

Einen „Wizard CTO“ werden sie in Zukunft immer brauchen.

Dr. Kai Bender

Dass Technologie zentral bleiben wird und ich als Informatiker daran persönlich ganz viel Spaß habe, ist ebenfalls klar. Aber der Idee, dass Technologie alles ist, würde ich mich nicht anschließen.

Wird es in naher Zukunft überhaupt noch Analysten-Jobs in der Beratung geben oder machen KI-gestützte Tools wie AskBrian und ChatGPT diese Rollen obsolet?

Ich sehe, dass beispielsweise im Bereich Knowledge Services und Research einiges Potenzial für diese Technologien steckt. Ich glaube aber nicht, dass es bei uns in der Branche zu einer echten Substitution von Mensch durch Maschine kommt. In der Strategieberatung wird man ja nicht zuvorderst nach Fakten gefragt, sondern nach begründeter Meinung und wertstiftender Umsetzung. Alle Entscheidungen, die rein faktenbasiert sind und die man ausrechnen kann, benötigen ohnehin keinen Berater – das konnte man auch schon vor ChatGPT automatisieren. Das hat sich erst mal nicht geändert.

Eine Anreicherung der Information durch schöne Formulierung und das Wissen dieser Welt ist uns natürlich sehr willkommen, das nutzen wir natürlich auch. Ich gehöre übrigens nicht zu den Kulturpessimisten, die mit dem Aufkommen von ChatGPT befürchten, dass niemand mehr Hausaufgaben macht und niemand mehr formulieren kann. Wenn das ein Problem ist, dann gab es dieses bereits vor diesen KI-Tools. Wir müssen einfach lernen, mit solchen Tools umzugehen. Menschen müssen Eigentümer der Kulturtechniken bleiben, und dass die Maschine ihnen bei der Umsetzung helfen kann, ist völlig in Ordnung. Aber es ist tatsächlich genau das: eine Unterstützung und ein Werkzeug.

Oliver Wyman Berlin © CSMM

Oliver Wyman ist Teil der Marsh McLennan (MMC) Gruppe. Welche Vorteile ergeben sich für Sie aus dem Zusammenspiel in der Gruppe?

Zunächst einmal haben wir die Vorteile eines globalen, sehr finanzstarken Konzerns. Wenn Investitionsentscheidungen zu treffen sind, dann können Sie das aus der Position eines großen Konzerns leichter schultern, als eine Unternehmensberatung, die auf sich allein gestellt ist. Wir haben Kapitalmarktzugang, wir haben Schwestergesellschaften, die qua Umsatz viel größer sind als wir. Wir haben mit unserer Gruppe in jeder größeren deutschen Stadt einen Standort. Also, die Infrastruktur ist da, das Kapital ist da, und das allein ist immer schon ein Vorteil.

Zum Zweiten bringen unsere Schwestergesellschaften bestimmte Kompetenzen mit, die wir in der Form nicht bieten. Durch die Kombination der verschiedenen Stärken können wir unseren Kunden viel besser helfen, als wir das alleine könnten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Das Thema Cyber Risk ist bereits seit vielen Jahren wichtig. Wir bei Oliver Wyman beraten zu diesem Thema. Wir quantifizieren Cyber Risks, wir beschreiben, wie man Risiken mitigieren kann, wie man sie begrenzen kann, wie man Gegenstrategien aufstellt, welche technologischen und methodisch-prozessualen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit sich unser Kunde dagegen schützt. Aber es bleibt natürlich stets ein Restrisiko. Und dieses Restrisiko müssen wir auf den Markt tragen. Damit sind Sie im Bereich der Versicherung, und da haben wir mit Marsh eine Schwestergesellschaft, die dieses Thema perfekt beherrscht. Das heißt, wir können gemeinsam ein Thema wie Risk von der Quantifizierung über die Mitigation bis hin zum Markttransfer des Restrisikos aus einer Hand abdecken. Das kann kein anderer.

Bemerkenswert, dass Sie dieses Beispiel wählen, denn naheliegender ist ja vermutlich das Zusammenspiel mit Ihrer Consulting-Schwester Mercer…

…und das wäre mein zweites Beispiel. Mercer hat starke Change-Management-Capabilities. Das ist eine ganz wunderbare Ergänzung. Wir arbeiten bereits in vielen unterschiedlichen Branchen zusammen. Wenn wir beispielsweise ein Transformationskonzept erstellen und klar ist, dass die Verankerung dieser Transformation beim Kunden einen kulturellen Change erfordert, bringt Mercer dafür die perfekten Kompetenzen mit. Und auch dieses Zusammenspiel zwischen Oliver Wyman und Mercer ist eine tolle Paarung, die am Markt sehr überzeugt.

Ich könnte noch viele weitere gute Beispiele anführen, die einen Hinweis auf die Synergien innerhalb unserer Gruppe geben. Machen wir heute bereits das Maximum aus den möglichen Synergien? Wahrscheinlich nicht – wir können noch besser werden. Wir blicken aber auf eine exzellente Zusammenarbeit und spüren sehr deutlich, dass es gut ist, bei MMC aufgehoben zu sein.

Übernehmen Sie bei Oliver Wyman denn typischerweise die Rolle des Generalunternehmers? Die Big-4 haben sich ja in den vergangenen Jahren bewusst Strategieeinheiten eingekauft oder ausgebaut, um diese Rolle übernehmen zu können.

Zunächst einmal: Wir treten nicht bei jedem Mandat als MMC-Tochtergesellschaft auf. In erster Linie agieren wir als Oliver Wyman und somit als unabhängige Strategieberatung. Und wenn Sie schon die Big-4 ansprechen: Wir haben gegenüber den Big-4 den großen Vorteil, kein Audit-Geschäft zu haben. Es gibt bei uns kein dominantes erstes Geschäftsmodell, das unsere Beratungstätigkeit in irgendeiner Form unterbinden würde. Das ist bei den angesprochenen Häusern anders.

Die Kombination aus den Vorteilen eines Großkonzerns mit der Freiheit des Beratungsmodells bringt nur ein Marktteilnehmer mit – und das sind wir. Das haben wir wirklich exklusiv.

Oliver Wyman Düsseldorf © CSMM

Kommen wir noch einmal zu Ihnen persönlich. Sie haben an der EBS studiert, wo die Absolvierenden meist vor der Frage stehen: Gehe ich in die Beratung, ins Investment Banking oder gründe ich ein Start-up? Haben Sie sich zu Beginn Ihrer Karriere auch gefragt, ob Sie ein Start-up gründen?

Sie bringen da einen ganz entscheidenden Punkt auf, den wir im Partnerkreis intensiv diskutieren. Bei Oliver Wyman und auch bei unseren Wettbewerbern sind ja nun lauter „Generation X“-er in Führungsverantwortung. Und als wir alle unsere Karriere begonnen haben, gab es für uns mehr oder weniger nur zwei Optionen: Es gab die Investmentbank oder die Beratung. Und in dem Bewusstsein sind die meisten von uns groß geworden.

Heute ist das fundamental anders. Es gibt noch immer die von Ihnen beschriebenen Optionen – es gibt aber ungleich mehr Wahlmöglichkeiten: Es gibt Private Equity, Venture Capital, es gibt in den großen Konzernen Vehikel, in denen Start-ups entwickelt werden…Und wir müssen diejenigen Talente herausfiltern, die die richtigen für die Unternehmensberatung sind.

Das Portfolio an Optionen ist für Top-Talente sehr groß – und das ist auch gut so! Im Übrigen habe ich gar nichts dagegen, wenn jemand ein bisschen zwischen uns und anderen Optionen schwankt. Wenn jemand vielleicht sogar rausgeht, etwas gründet und dann wieder zu uns zurückkehrt. Es gibt einige Gründungen von ehemaligen Oliver Wyman Kollegen, die äußerst erfolgreich sind. Es gibt auch Leute, die probieren etwas, das klappt dann so „mittelgut“ und die kommen wieder zu uns zurück. Das gehört einfach dazu und belebt das Geschäft.

Sie selbst blicken auf eine beeindruckende und lupenreine Consulting-Karriere zurück. Hat es Sie bisher nicht gereizt, Verantwortung in einer Industrierolle zu übernehmen?

Wenn sich meine Rolle nicht in schöner Regelmäßigkeit immer weiterentwickelt hätte, wäre ich sicherlich nicht so lange in der Beratung geblieben. Ich habe ja jetzt eine Rolle, die stark institutionell und außenwirksam ist. Und mit dieser Verantwortung fühle ich mich sehr wohl, es macht wirklich unglaublich viel Spaß. Aber es war auch wichtig, dass sich meine Aufgaben und Herausforderungen über die Jahre weiterentwickelt haben.

Ich verrate Ihnen etwas: Ich bin kein großer Karriereplaner, das war ich nie.

Dr. Kai Bender

Ich habe mich nie hingesetzt und mir einen Multi-year-Plan für meine Karriere entwickelt. Die Rollen sind eigentlich immer zu mir gekommen, es hat sich stets intuitiv ergeben. Hätte ich mir auch eine Karriere in der Industrie vorstellen können? Ja, sicherlich. Aber letztlich ist es anders gekommen [lächelt].

Oliver Wyman München © CSMM

Ihre Vorgängerin, Finja Kütz, wechselte 2018 zu Unicredit und wurde dort Chief Transformation Officerin. Nach drei Jahren beendete sie ihr Engagement und ist nun Senior Advisor und Aufsichtsrätin. Ist dies für Sie persönlich eine ebenfalls vorstellbare Karriereperspektive?

Ja, das ist sicherlich einer von verschiedenen denkbaren Pfaden für mich. Finja ist für uns als Senior Advisor tätig, und wir arbeiten an vielen Themen sehr gut zusammen. Das ist ein tolles Modell!

Gibt es in Ihrer Funktion als Deutschlandchef bei Oliver Wyman etwas, worauf Sie stolz sind?

Zum einen das Wachstum unseres Unternehmens. Darüber hinaus die Erweiterung unseres Portfolios durch die neuen Practices Chemie, Life Sciences und Public. Das hatte ich mir bei Antritt meines Amtes im Jahr 2018 auf die Fahnen geschrieben und das hat sich bestens umsetzen lassen. Und schließlich bin ich stolz darauf, wie wir durch die Pandemie gekommen sind.

Letzte Frage: Was ist der eine Karrieretipp, den Sie Beratenden ans Herz legen würden, um eine erfolgreiche Consulting-Karriere zu realisieren?

Keine Idole! Ich beobachte, wie einzelne Persönlichkeiten im Tech-Business oder jenseits davon wie Popstars angehimmelt werden. Ich möchte gar nicht bewerten, ob dies berechtigt geschieht oder nicht. Ich kann nur davor warnen, aus der Bewunderung für die Lebensleistung eines anderen Menschen ein Rezept für den eigenen Erfolg abzuleiten. Im besten Fall kommt eine schlechte Kopie heraus. Geht Euren eigenen Weg und stilisiert keine Idole!

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